Die emergente Strategie nach Mintzberg und ihre Bedeutung für Agilität

Emergente Strategie als Gegenteil von geplanter Strategie. Das Konzept wird häufig reduziert auf die Idee, das geplante Strategien oft nicht realisiert werden. Statt dessen entstehen andere Strategien entstehen und werden umgesetzt. Dieser Artikel geht auf weitergehende Aspekte des originalen Forschungspapier „Of Strategies, Deliberate and Emergent“ (Mintzberg, Henry, and James A. Waters. “Of Strategies, Deliberate and Emergent.” Strategic Management Journal, vol. 6, no. 3, 1985, pp. 257–272. JSTOR, www.jstor.org/stable/2486186. Accessed 19 Jan. 2020.) ein.

Die Beschreibung von 1985 bietet aus heutiger Sicht – 35 Jahre später – praxisrelevante Erklärungsansätze für den aktuellen Stand der agilen Strategie und Selbstorganisation. Deshalb wird der Inhalt des Artikels hier dargestellt und unter dem Aspekt der Agilität betrachtet. Am Schluss gibt es eine praktische Anleitung, wie das Konzept genutzt werden kann.

Unter „Mintzberg Modell“ wird einerseits das hier vorgestellte Modell der geplanten versus entstandene Strategie verstanden. Oft bezieht es sich aber auch auf ein Modell von Mintzberg zur Organisationskultur – dieses wird in einem anderen Artikel behandelt.

Zusammenfassung

Zusammenfassung

Bereits 1985 haben Mintzberg und Waters klar den Zusammenhang beschrieben zwischen Strategie, der Umsetzbarkeit und den externen Faktoren. Je besser die externen Faktoren bekannt oder kontrollierbar sind, desto eher kann eine Strategie so durchgeführt werden wie geplant.
35 Jahre später befinden wir uns in einer Welt hoher Unsicherheit und schneller Veränderung. Demographie, Klimawandel, Arbeitsmarkt, Technologie. Unternehmen reagieren darauf mit Transformation und Agilität. Das bringt mehr Unsicherheit und mehr Veränderung.
Aus den Ideen von Mintzberg und Waters können wir mindestens 3 Handlungsfelder für die heutige agile Zeit ableiten:
1. Jede Organisation hat ihr eigenes Muster, wie Strategie entsteht und umgesetzt wird. Es ist wichtig, dieses Muster zu verstehen, um die eigenen Spielräume zu erkennen und um zu lernen.
2. Unser schnell wechselndes externe Umfeld macht es sehr schwer, Strategien zuverlässig umzusetzen. Daher brauchen wir die Fähigkeit zu Anpassung. Agilität ist die Konkretisierung davon.
3. „Strategisches Lernen“ ist essentiell im Sinne von „Den Strategieprozess des Unternehmens ständig anzupassen und zu verbessern“.

Das Kontinuum

„Deliberate and emergent strategies may be conceived as two ends of a continuum along which real-world strategies lie.“ (Mintzberg, Waters 1985)

„Geplante und entstandene Strategien können verstanden werden als zwei Enden eines Kontinuums, auf dem die Strategien liegen, die im realen Leben auftreten.“

Sprachlich wird „Emergent“ hier aus dem englischen als „entstanden“ übersetzt. Im Sinne von „sich im Laufe der Zeit entwickelt, gewachsen“. „Deliberate“ wird übersetzt als “ geplant“. Im Sinne von „am Anfang festgelegt, dokumentiert, beschlossen, beabsichtigt“.

Was ist geplante und emergente Strategie?

Mintzberg und Waters beginnen mit der Wahrnehmung von Strategie in der Mitte der 80er Jahre. Damals war die vorherrschende Auffassung, das es sich um einen analytischen Prozess handelt. In diesem Prozess formuliert die Führung einer Organisation einen Plan für die Zukunft, der dann auch so ausgeführt wird.

Diese Wahrnehmung wird als „ernsthaft limitiert“ beschrieben. Die Folgerung daraus ist, das der Prozess von einer weitaus umfassenderen Perspektive betrachtet werden muss.

Zu diesem Zeitpunkt hatten Mintzberg und Waters bereits 10 Jahre lang untersucht, wie Unternehmen Strategien formulieren und umsetzen. In diesen Untersuchungen hatten sie Strategie definiert als als „ein Muster in einem Strom von Entscheidungen“ (englisch „a pattern in a stream of decisions“). Gegenstand ihrer Untersuchungen waren die Muster im Strom von Entscheidungen und ihr Ursprung. Sie fanden heraus, das es oft eine Diskrepanz gab zwischen dem, was die Organisation ursprünglich formuliert hatte und dem, was dann umgesetzt wurde.

Aus heutiger Sicht mag das trivial erscheinen. Aber der Anspruch, das eine Strategie auch genauso umgesetzt wird wie sie geplant war, war stärker verwurzelt im Management-Denken als es heute in vielen Bereichen ist. Dieser Aspekt wird noch ausführlicher behandelt. Ein Grund dafür ist, das die Makroumgebung heute mit starker Unsicherheit die analytische Voraus-Planung schwieriger macht. Daher wird mehr Wert darauf gelegt, das sich Strategien entwickeln können – Agiliät.

Beabsichtigte versus umgesetzte Strategie

Diese Diskrepanz führte zur Unterscheidung zwischen „beabsichtigter“ und „umgesetzter“ Strategie. Diese beiden Aspekte werden dargestellt in einem Diagramm, das in diesem Kontext meistens auftaucht. Es skizziert die Grundidee.

Der Original-Artikel geht weit darüber hinaus. Er stellt eine Reihe von Mustern zur Strategie-Erstellung vor und führt den Aspekt des „strategischen Lernens“ ein.

So sieht das „klassische“ Diagramm aus:

Diagramm zu Mintzberg's Modell "emergente Strategie"

Zwei Pole – reine „vorsätzliche“ und reine „entstandene“ Strategien

Der eine Pol sind rein „vorsätzliche“ Strategien. Das sind Strategien, die genau so umgesetzt wurden, wie sie beabsichtigt waren. Dafür müssen laut Mintzberg und Waters drei Bedingungen erfüllt sein:

  • Eine detaillierte Strategie, die so klar definiert und so klar dokumentiert ist, das keine Zweifel über die Absichten und Umsetzung bestehen.
  • Der Inhalt der Strategie muss praktische allen Beteiligten bekannt sein und damit kollektiv werden.
  • Diese kollektiven Absichten müssen ohne Abweichungen umgesetzt werden, keine externen Faktoren dürfen sie beeinflussen.

Dem gegenüber steht der andere Pol: rein „entstandene“ Strategien. Diese Strategie in Reinform erfordert konsistente Handlungen über die Zeit in der kompletten Abwesenheit von Absicht.

Emergente Strategie - Kontinuum zwischen geplant und entstandener Strategie

Beide Extreme sind in der Praxis wenig wahrscheinlich. Angenommen innerhalb der Organisation ist die geplante Strategie vollständig bekannt, verstanden und akzeptiert. Dann werden immer noch externe Faktoren der Makroumwelt die Umsetzung der Strategie zumindest zum Teil beeinflussen. Und auch die „absichtslose“ Strategie wird man kaum finden. Für beide Fälle gibt es laut Mintzberg und Waters Beispiele für Strategien, die dem nahe kommen, aber sie sind extrem selten.

Wenn die „reinen“ Strategien nun extrem selten sind, was passiert dann in Organisationen statt dessen? Mintzberg und Waters betonen, das strategische Planung große Bedeutung hat, auch wenn die Umsetzung nicht zu 100% erfolgt. Eine Tatsache, die schon lange bekannt ist, wie das Zitat von Moltke von 1871 zeigt.

„Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“

Helmuth Karl Bernhard von Moltke, „Über Strategie“ (1871). In: Kriegsgeschichtliche Einzelschriften, H.13 (1890), hier zitiert nach: Militārische Werke, Band 2, Teil 2. Mittler & Sohn Berlin 1900.

Die 8 Muster zwischen geplanter und umgesetzter Strategie

Mintzberg und Waters beschreiben 8 verschiedene Muster, wie Strategien geformt und umgesetzt werden in Organisationen. Diese Muster wurden in einer großen Bandbreite von Unternehmen beobachtet und klassifiziert.

NameIn einem SatzVorsätzlich oder entstanden?Einfluß der externen UmgebungBeispiel
GeplantGeplant – getan!Vorsätzlich! So weit wie es geht.Muss stabil sein, beeinflussbar oder aber vorhersagbar.Energieindustrie – hohe langfristige Investitionen bei unsicherer Umgebung
UnternehmerischAlle folgen einem Kopf mit einer VisionVorsätzlich. Bis sich die Vision ändert …Muss stabil sein für eine bestimmte VisionApple, Tesla. Wirksam aber nicht ohne Probleme …
IdeologischWir wissen WARUM wir Dinge tunSemi-vorsätzlich. Das WARUM ist sehr stabil, das WAS kann sich ändern.Das WARUM ist valide solange die Umgebung es nicht obsolet macht.Greenpeace. 1971 gegründet. Die konkreten Themen haben sich geändert, die Inhalte haben sich entwickelt.
Unter einem DachHandle autark – in GrenzenEs gibt Freiheiten, die Strategien entstehen lassen. Innerhalb von Grenzen, die geplant sind. Kann möglicherweise Grenzen der Organisation verletzen.Reagieren auf die Umgebung wird erleichtert durch relative Autonomie in Grenzen.NASA (aufgeführt von Mintzberg / Waters). Ziel: Mond. Vielfältige Probleme autonom zu lösen.
ProzessWir wissen WIE wir Strategien definierenProzess = Geplant
Inhalt = Variabel.
Reagieren auf die Umgebung wird erleichtert durch Offenheit im Ergebnis bei fixem Prozess.Verteilte globale Organisationen. Die Zentrale definiert das WIE durch Gestalten der Organisation. Aber nicht das WAS.
LoseJeder Teil für sichIm großen Kontext der Gesamtorganisation „entstanden“, im relativ kleineren Kontext des Organisations-Teils geplant. Ein Teil der Organisation entwickelt eine eigene Strategie. Kann möglicherweise Grenzen der Organisation verletzen.Im großen Kontext viel Raum für Flexibilität, weil nicht an Vorgaben gebunden. Im kleinen Kontext kommt es auf die gewählte Strategie an!Die Entwicklung einer Generation von Kampf-Flugzeugen (speziell F-16) der US-Luftwaffe wurde getrieben von einer kleinen Gruppe, die in sich sehr konsequent agierte, aber nicht im Einklang mit der Gesamt-Organisation stand („Fighter Mafia“).
KonsensDie Strategie entwickelt sich im Zusammenspiel (Mintzberg / Waters sprechen von der „Intuition der Organisation“)Teile der Organisation beeinflussen sich über einen Zeitraum gegenseitig beeinflussen und konvergieren schließlich in der Strategie.
Damit ist nicht gemeint, das alle zusammen einmal eine Strategie definieren.
Stark. Die Entwicklung der Umgebung beeinflusst die Entwicklung der Strategie. Die Strategie wiederum wird von der gesamten Organisation entwickelt. Daher ist dieser Ansatz langsam aber nachhaltig.Organische Einführung von Agilität in einer Organisation „von unten“. Aus einem Scrum-Team werden mehrere in einer Abteilung, das Konzept breitet sich aus, das Management passt sich an.
Von außen bestimmtWir suchen es uns nicht aus!Entstanden in dem Sinn das jegliche Absicht durch Notwendigkeiten „überschrieben“ werden.Maximal. Die externe Umgebung bestimmt wesentliche Parameter die dann die Strategie bestimmen.Energiewirtschaft – Ausstieg aus der Atomenergie.

Details der verschiedenen Strategie-Muster

Zuerst werden die beschrieben, die dicht bei den vorsätzlichen Strategien liegen. Dann folgen die Strategien, die dichter am Ende der entstandenen Strategien liegen. Im Artikel von Mintzberg und Waters finden sich visuelle Darstellungen dieser Muster. Hier werden die wichtigsten Eigenschaften vorgestellt.

Was hat emergente Strategie mit Agilität zu tun?

Welche Rolle spielt die Umwelt im Modell von Mintzberg und Waters?

Ein Kernaspekt im Modell von Mintzberg und Waters wird oft übersehen: die Rolle der externen Umwelt. Wenn man genauer hinschaut, besteht das Modell aus zwei Teilen.

Teil 1 ist der prinzipiellen Gegensatz zwischen der geplanten und der entstandenen Strategie, der in den Untersuchungen der Firmenstrategien gefunden wurde. In diesem Teil wird festgestellt, das für eine Strategie der Reinform „Umgesetzt genau wie geplant“ die Umwelt als Einflussfaktor entweder nicht relevant sein darf, kontrolliert werden kann oder sicher vorhersagbar ist. Wenn das nicht gegeben ist, dann kann die Strategie nicht wie geplant umgesetzt werden und dann ist es nicht mehr die „Reinform“.

Teil 2 baut auf diesem Gegensatz auf und beantwortet die Frage, wie Strategie in der Praxis definiert und umgesetzt wird und welche Rolle die Umwelt spielt.

Die acht Muster existieren entweder als Reaktion auf Veränderungen in der Umwelt oder aber als Maßnahme, um auf solche Veränderungen überhaupt als Organisation reagieren zu können.

Die Umwelt ist damit der entscheidende Faktor für die Ausprägung von Strategie in Unternehmen.

Welche Rolle spielt die Umwelt in der Agilität?

Agilität bedeutet die Fähigkeit einer Organisation auf Veränderung zu reagieren. Das Konzept der Agilität ist entstanden als Reaktion auf Strategien, die Annahmen über die Umwelt gemacht haben und die falsch waren.

Agilität ist eine „Meta-Strategie“, die Änderungen in der Umwelt als gegeben akzeptiert und als Konstante annimmt. Änderungen in der Umwelt sind keine Ausnahme in der agilen Welt, sondern eine Regel.

Wie passt Agilität zu den 8 Strategie-Mustern?

NameIn einem SatzRelation zur Agilität
GeplantGeplant – getan!Theoretisch mit perfekter Koordination möglich – wenn es denn die Umwelt zulassen würde.
UnternehmerischAlle folgen einem Kopf mit einer VisionErfordert Koordination. Wie wird die Vision transportiert und konkretisiert?
IdeologischWir wissen WARUM wir Dinge tunWird unterstützt durch den Ansatz der Selbstorganisation in der Agilität.
Unter einem DachHandle autark – in GrenzenWird unterstützt durch den Ansatz der Selbstorganisation in der Agilität.
ProzessWir wissen WIE wir Strategien definierenKann in agilen Prozessen abgebildet werden (Flight Level Kanban). Wird unterstützt durch den Ansatz der Selbstorganisation in der Agilität.
LoseJeder Teil für sichMacht Koordinierung schwierig. Wird unterstützt – oder besser gesagt begünstigt – durch den Ansatz der Selbstorganisation in der Agilität.
KonsensDie Strategie entwickelt sich im Zusammenspiel (Mintzberg / Waters sprechen von der „Intuition der Organisation“)Erfordert ein hohes Maß der Koordinierung und sehr gute Abstimmung auf der Strategieebene, z.B. Flight Level Kanban.
Von außen bestimmtWir suchen es uns nicht aus!Plötzliche Änderungen können zuverlässig umgesetzt werden.

Wie kann ich Mintzberg’s und Waters Modell für mich nutzen?

Zeitaufwand: 4 hours.

Wie kann ich die Idee von geplanter und emergenter Strategie für mich nutzen? Der Zeitaufwand ist nur ein erster Anhaltspunkt, da es sich um einen explorativen Prozess handelt, der dann nach Bedarf weiter ausgebaut wird.

  1. Mache Dich mit der Idee vertraut

    Lese den Original-Artikel und mache Dir Notizen, was für Deine Organisation zutrifft.

  2. Untersuche Deine Umgebung und finde heraus wie dort Strategie funktioniert

    Wo auf dem Kontinuum befindet sich Deine Organisation?

  3. Finde die Konsequenzen und verstehe Deine Kultur

    Wie wurde Strategie in der Vergangenheit definiert und umgesetzt? Wer hat sie definiert, wie wurde sie umgesetzt? Welche Strategien wurden fallengelassen und welche anderen Strategien sind entstanden?

  4. Definiere Früh-Indikatoren

    Wie gut ist Deine Organisation darin, Strategien auf ihre Wirksamkeit zu beurteilen und wie ändert ihr Strategie? Passiert das transparent oder intransparent? Allmählich oder plötzlich?

  5. Behalte das Thema immer im Blick und arbeite damit

    Nicht nur die Strategien an sich, auch das Thema „Strategie lernen“ solltest Du beobachten. Wie könnt ihr besser werden? Dafür braucht ihr ein Forum, am besten 2-3 mal im Jahr!
    Wenn Du Unterstützung suchst für diesen Prozess findest Du hier Angebote.

FAQ

Wo kann ich den originalen Artikel lesen?

– Mintzberg, Henry, and James A. Waters. “Of Strategies, Deliberate and Emergent.” Strategic Management Journal, vol. 6, no. 3, 1985, pp. 257–272. JSTOR, www.jstor.org/stable/2486186. Accessed 19 Jan. 2020.
https://www.amazon.com/Strategy-Reader-Susan-Segal-Horn/dp/1405126876
– Mir ist keine deutsche Übersetzung bekannt.

Wie kann ich mehr erfahren über meine Organisationskultur?

Manche der oben beschriebenen Faktoren in der Strategieentwicklung, z.B. Ideologie, Prozesse, Machtverteilung, werden in Minzberg’s Modell der Organisationskultur beschrieben.